würdige Arme, betrügerische Bettler

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Die alte Sorge um Sozialbetrüger

Immer wieder mal sorgen sogenannte Sozialbetrüger in der Schweiz für Schlagzeilen. Dabei geht es jeweils darum, dass jemand sich in betrügerischer Absicht an Sozialbezügen bereichert. Schnell kochen da auch die Emotionen bei den Lesern hoch, die in Leserbriefen empört den Diebstahl ihres Steuergeldes anprangern. Derweil sind die für die Sozialhilfe zuständigen Stellen besorgt darüber, Sozialbetrug zu vermeiden. In der Charta Schweizer Sozialhilfe wird klar gestellt, dass umfassende Kontrollen zum Alltag der Sozialdienste gehören. So müssen Sozialhilfebezüger etwa ihre finanzielle und familiäre Situation offen darlegen. Bei Verdacht auf Sozialhilfebetrug können Privatdetektive zum Einsatz kommen. Ausländische Sozialhilfebetrüger können ausgewiesen werden.

Die Einstellung gegenüber Sozialhilfeempfänger und die Sorge darum, ob die Unterstützung des Staates via Sozialamt tatsächlich bei den Richtigen ankommt, teilen wir, so befremdlich das zuerst klingen mag, mit den Menschen im Mittelalter. Damals benutzte man zwar andere Begriffe, doch die Thematik war im Grunde dieselbe. Auch die Vorstellung, wonach wir alle uns das Leben hart verdienen müssen, etablierte sich im Mittelalter.

Armenfürsorge im Mittelalter

Schon vor gut 600 Jahren hatte sich eine Unterteilung Bedürftiger in hauptsächlich zwei unterschiedliche Gruppen eingebürgert: den «würdigen Armen» einerseits und den «starken Bettlern» andererseits. Unter den würdigen Armen stellte man sich Menschen vor, die zwar arbeiten wollten, aber etwa aufgrund einer schweren Krankheit dies nicht konnten und Hilfe brauchten. In der Logik dieser Vorstellung war das Gegenstück dazu der starke Bettler, der zwar gesund war aber aus Faulheit sein Leben lieber durch betteln verdiente, in dem er ein Gebrechen vortäuschte. Dem starken Bettler entspricht der heutige Sozialbetrüger.

Diese Art der Aufteilung Bedürftiger kannte schon das römische Recht. Sie wurde im Mittelalter sowohl von der Kanonistik wie auch der weltlichen Rechtswissenschaft übernommen und war spätestens im 14. Jahrhundert gefestigt.

Allerdings gab es damals, im Gegensatz zu heute, kein straffes staatlich organisiertes Fürsorgewesen und somit auch keine zentrale Stelle, die überprüfte, ob Unterstützungsleistungen korrekt zugewiesen wurden. Die Fürsorge war in den Händen von Privaten und der Kirche.

Wohlhabende Private spendeten dabei für die Bedürftigen und taten somit auch für sich selbst etwas Gutes; gemäss der damaligen Vorstellung verhalfen wohltätige Werke nämlich zum Seelenheil. Auch Klöster liessen je nach Möglichkeit den Bedürftigen materielle Hilfe zukommen.

Eine erster Wendepunkt in der Organisation der Armenfürsorge trat im 14. Jahrhundert mit der Erscheinung der Pest ein. In der Pest sah man eine Strafe Gottes für die Sünden der Menschen. Das Auftreten der Pest führte demnach zu einer veränderten, negativen Einschätzung von Armen und Bettlern. Gerade die arbeitsfähigen Bettler erschienen als Ausdruck einer gestörten Ordnung, weil es aufgrund des massenhaften Todes an billigen Arbeitskräften mangelte. In England verbot man deshalb zum ersten Mal 1349 die Gabe von Almosen an «starke» Bettler. Langsam wandelte sich nun im Spätmittelalter die Einstellung gegenüber der Armut weg von einem religiös motivierten Almosengeben hin zu einer zentralisierteren und bürokratischeren Verteilung des Almosens an eine definierte Zielgruppe. Dies passierte Schrittweise, je nach Region, Stadt oder Land, fielen die Auswirkungen der neuen Betrachtungsweise der Armut anders aus.

Die Bürokratie erhält Einzug

Die ganz grosse Veränderung in der Organisation der Fürsorge trat aber erst ab dem frühen 16. Jahrhundert in den europäischen Städten ein. Damals zogen die erstarkten Stadträte das Almosenwesen an sich und bemühten sich um eine effizientere und zielgerichtetere Organisation der Armenfürsorge. Dabei wurde sehr stark mit den Kategorien des «starken Bettlers» und «würdigen Armen» gearbeitet. Nur die als «würdig» erachteten Armen sollten eine Unterstürzung bekommen. Als «würdig arm» wurde betrachtet, wer offensichtlich aufgrund von Alter, Krankheit oder Invalidität am arbeiten gehindert wurde. Auch Witwen, die den Versorger verloren hatten, gehörten in die Gruppe der «würdigen» Armen. Passte jemand nicht in diese Kategorie, lief er oder sie Gefahr als «starker Bettler» zu gelten und kriminalisiert und ausgegrenzt zu werden. Dabei kam erschwerend hinzu, dass Arbeitslosigkeit alleine nicht als Bettelgrund galt. Die Mandate betreffend die Armenfürsorge des Zürcher Rates zeigen, dass auch in der Limmatstadt eine ähnliche Entwicklung stattfand, wie im restlichen Europa.

Ein anderes Kriterium, anhand dessen die städtische Obrigkeit über eine Unterstützung entschied, war die Ortsansässigkeit. Auswärtige Arme wurden besonders kritisch betrachtet. Dies zeigt auch ein Mandat des Zürcher Rates von 1662 sehr anschaulich. Es legte fest, dass «fremdes Bettelgesind (…) samt all ihrer Hab» ins Herkunftsland oder den Herkunftskanton auszuweisen war. Schon seit dem frühen 14. Jahrhundert hatte der Zürcher Rat vor allem Massnahmen gegen fremde Bettler getroffen. Fremde Notleidende bekamen zwar Hilfe im Zürcher Spital, das seit der Reformation im ehemaligen Predigerkloster untergebracht war. Gemäss dem Gesetz sollten sie aber nur eine Mahlzeit bekommen und hatten danach die Stadt wieder zu verlassen.

Die «würdigen» Zürcher Armen dagegen erhielten eine regelmässige Zuwendung, die sie persönlich meist vom Pfarrer der Gemeinde bezogen. Der Pfarrer war es auch, dem die Kontrolle der Armengenössigen oblag und der regelmässig überprüfen sollte, ob die Gründe für die Bedürftigkeit noch bestanden. Dabei ist wichtig darauf hinzuweisen, dass die Unterstützung durch die Obrigkeit immer subsidiär war. Sie wurde nur gewährt, wenn die anderen sozialen Sicherungsmechanismen (Familie, Zunft, usw.) versagten.

Was steckt hinter der Reorganisation des Armenwesens?

Doch warum kam es just ab dem 16. Jahrhundert in den europäischen Städten zu einer strafferen Organisation des Armenwesens?

Eine einschneidende Entwicklung im 16. Jahrhundert war die Reformation. War jene der Auslöser für die verstärkte Reorganisation des Armenwesens? In Zürich zum Beispiel, wo Zwingli 1525 die Reformation einläutete, wurde die städtische Armenfürsorge im Zuge der Reformation säkularisiert und fiel unter die Kontrolle des Stadtrates. Vermögen, dass früher von der Kirche verwaltet wurde, stand nun dem Stadtrat zur Verfügung, der es zum Teil zur Gründung eines Almosenamtes verwendete, das die städtische Fürsorge koordinierte.

Nun ist es aber so, dass ab 1522 unbestreitbar nicht nur protestantische, sondern auch katholische Städte und Territorien eine Armenreform durchführten. Dazu ähneln sich die institutionellen Reformprozesse und grundlegenden Entwicklungen über Länder-und Konfessionsgrenzen hinaus sehr. In der Forschung wird der Einfluss der Reformation auf die Reorganisation der Armenfürsorge daher relativiert. Gleichzeitig wird aber davon ausgegangen, dass die protestantischen Bemühungen um die Erneuerung des weltlichen Armenwesens die zeitgenössische Diskussion und Praxis im katholischen Bereich beeinflussten.

Neben dem Einfluss der Reformation auf die Neugestaltung des Armenwesens führten Historiker in den letzten zwanzig bis dreissig Jahren sehr unterschiedliche Entwicklungen ins Feld, die zu einem anderen Umgang mit der Armut geführt haben könnten.

Bronislav Geremek, der 1988 sein Buch «Geschichte der Armut» schrieb, sah als Hauptverantwortlicher für die Veränderung in der städtischen Fürsorgepraxis den Frühkapitalismus also das Bestreben einer «herrschenden Klasse», die Profitrate maximal zu steigern bei einer minimalen Entlohnung. Diese Entwicklung habe vor allem auf dem Land stattgefunden. Die Folge davon sei eine Verarmung der Landbevölkerung gewesen, weswegen es zu einer massenhaften Abwanderung von Landbewohnern in die Städte gekommen sei. Die Städte hätten auf diesen Ansturm neuer Bedürftiger mit einer Umorganisation ihres Armenwesens reagiert, um die Auswirkungen des Frühkapitalismus abzufedern.

Wolfgang von Hippel, dessen Forschungsschwerpunkt Wirtschafts- und Sozialgeschichte im 17. und 18. Jahrhundert ist, warnt davor, demographische (starkes Bevölkerungswachstum) oder wirtschaftliche Ansätze (Lohndruck, Arbeitslosigkeit) pauschal als Gründe für die restriktivere Armutspolitik der mittelalterlichen Obrigkeiten zu sehen. Man müsse je nach Ortschaft genauer hinschauen. Geremeks These, das neue Armenpolitik die Auswirkungen des Frühkapitalismus abfedern sollte, verwirft er sogar ganz. Überzeugender findet Hippel die These der «Stadtgesellschaft als Solidargemeinschaft»: Vom Gedanken der Gegenseitigkeit getragen, neigte die Stadtgemeinschaft dazu die wachsende Zahl von Fremden auszugrenzen und die einheimischen Armen zu bevorzugen.

Tatsächlich beobachten Historiker für das Europa im 16. Jahrhundert eine allgemeine Tendenz zur Vorsicht und Abschottung sowie zum Schutz erworbener Rechte, auch in der Eidgenossenschaft. So verschlossen sich etwa Körperschaften wie Handwerkszünfte, die ihren Mitgliedern wirtschaftliche Vernetzung und Hilfe bei Arbeitslosigkeit und Bedürftigkeit boten, neuen Mitgliedern. Die von Hippel erwähnte These der sich abgrenzenden Stadtgemeinschaft tönt auf diesem Hintergrund sehr plausibel.

Spannend ist die Überlegung von Ingomar Bogs wonach die neuen, strengeren Gesetze die Armenfürsorge betreffend ein Machtausdruck der städtischen Räte gewesen seien. Bog meint, dass sich die städtischen Räte zu einer «Obrigkeit» und einer eigenständigen politischen Gewalt entwickelten, die immer unabhängiger von der Kirche wurde. Die Räte nahmen dabei immer mehr städtische Angelegenheiten war, die die Gemeinschaft nicht mehr regeln konnte, wie eben auch die Armenfürsorge. Mit «Ordnungen» und «Policey» griffen die Räte ins gesellschaftliche Leben ein und brachten mit ihren Erlassen ihren Anspruch auf die Allzuständigkeit bei der Bekämpfung von Misständen zum Ausdruck.

Einen ganz anderen Ansatz verflogt Robert Jütte, der unter anderem intensiv zur sogenannten Kleinen Eiszeit in der Frühen Neuzeit forschte. Er sieht die Erneuerungen des Armenwesens im 16. und 17. Jahrhundert als Resultat einer klimatischen Entwicklung zu Anfang 16. Jahrhunderts. Eine Episode der Kleinen Eiszeit habe damals zu Missernten geführt, was ein rascher Anstieg Bedürftiger in den Städten zur Folge gehabt hätte. Letztere seien nun in der Bewältigung dieses Wachstums der Armut gefordert gewesen. Die so gesammelten Erfahrungen seien dann in die späteren Erneuerungen des Armenwesens eingeflossen.

Nur der Faule ist arm

Die genannten Ansätze liefern mögliche Antworten zur Frage warum genau im 16. Jahrhundert einer verstärkte Reform der Armenfürsorge stattfand. Sie gehen aber weniger auf die Art und Weise der Kategorisierung von Bedürftigen ein. Interessant im Zusammenhang mit dem Fokus, den die Mandate auf die Arbeitswilligkeit Bedürftiger stellten (untersützungsberechtigt ist, wer grundsätzlich arbeiten möchte, aber nicht kann, s.o) oder auch der Unfähigkeit der Zeitgenossen in Arbeitsmangel einen Armutsgrund zu sehen, ist der Input von Larry Frohman. Er macht auf humanistisches und lutherisches Gedankengut aus dem 16 Jahrhundert aufmerksam, das zu einer anderen Einstellung gegenüber «Arbeit» geführt habe. Frohman bezieht sich etwa auf den spanischen Humanist Juan Luis Vives. Dieser war der Ansicht alle Menschen müssten für ihren Lebensunterhalt arbeiten. Das Erreichen einer geistigen Vollkommenheit war für Vives Zweck der Arbeit. Die Auffassung wonach der Mensch arbeiten müsse, teilte Vives mit Martin Luther. Im Unterschied zu Vives leitete Luther aber die Pflicht zur Arbeit vom Sündenfall ab und sah in ihr einen Akt der Unterwerfung unter Gott. Gemeinsam war Luther und Vives, dass sie beide ihren Ansätzen entsprechend für ein Bettelverbot eintraten.

Ebenso führten beide Thesen zum Resultat, dass Arbeitslosigkeit nicht als Armuts- und Bettelgrund gelten konnte und Armut durch Erziehung zur Arbeit zu bekämpfen war. Resultat der Rezeption dieser Auffassung war eine Neubewertung der Arbeit. Bedeutete Arbeit im Mittelatler Mühsal, betrachtete man sie nun zunehmend als Quelle von Wohlstand und Reichtum. Dies bewirkte, dass die Ursache von Armut in erster Linie in Faulheit und mangelndem Arbeitswille erblickt wurde. Gemäss dieser Logik schien Armut ein selbst verschuldeter Zustand zu sein. Diese neue Sicht auf die Armut schlug sich wiederum in den oben erwähnten Bettelverboten und der Definition der «würdigen» Armen nieder. Interessant ist, das es mit der Übernahme von Luther und Vives Gedankengut sowohl auf katholischer als auch auf protestantischer Seite zu einer ähnlichen Schubladisierung Bedürftiger kam.

Die Ansätze von Luther und Vives führten auch zur Errichtung von Arbeitshäusern, wo Arme, Bettler und Vaganten zur Arbeit erzogen werden sollten. Ein solches Arbeitshaus entstand erstmals in England, in Bridwell, einem alten ausgedienten Palast. Die neue Sicht auf die Armut widerspiegelt sich auch im Mandat des Zürcher Rates von 1662 betreffend des neuen Waisenhauses. So sollte dessen Zweck sein, die internierten Kinder und Jugendlichen nicht nur zur Gottesfürchtigkeit aber auch zur Arbeit zu erziehen, damit sie ihren Lebensunterhalt selbst verdienen könnten.

Der neue Blick auf "Armut" und "Arbeit" ist bis heute gültig

Die Gründe, welche zu einem strengeren Umgang der städtischen Obrigkeiten mit Bedürftigen geführt haben mögen, waren also vielfältig. Bemerkenswert ist, dass der neue Blick auf «Armut» und «Arbeit» bis heute Gültigkeit hat. Dies wird in der Diskussion rund um das Grundeinkommen sichtbar. Auf der Seite www.grundeinkommen.ch werden Argumente gegen das Grundeinkommen aufgelistet. Ein Einwand, der gegen das Grundeinkommen ins Feld geführt wird, ist etwa die Auffassung, wonach ein erwachsener, arbeitsfähiger Mensch sein Leben im Schweisse seines Angesichts verdienen muss und es demzufolge nicht sein kann, dass einem dies abgenommen wird.1 Hier widerspiegelt sich Luthers und Vives Auffassung, wonach Arbeit eine Notwendigkeit ist.

Buch-Tipp

Reinheimer, Martin: Arme, Bettler und Vaganten. Überleben in der Not 1450-1850, Frankfurt am Main 2000.

Martin Reinheimer liefert eine kompakten Überblick über die Entwicklung des Armenwesens in Europa vom späten Mittelalter bis zur Neuzeit. Dabei zeichnet Reinheimer ein differenziertes Bild der Armut, verleiht den von Armut betroffenen Menschen ein Gesicht und nimmt sie als agierende Menschen mit ihren Weltbildern und Werthaltungen war.

Literatur

  • Muralt, Lydia: Würdige Arme und starke Bettler. Die Institutionalisierung der Armenführsorge und deren Hintergründe am Beispiel Zürichs. Seminararbeit der Universität Zürich, Zürich 2010
  • Charta Sozialhilfe Schweiz, S. 15.

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